Niki Glattauer: "Wir nehmen uns unsere Freizeit absichtlich weg."
Der Autor Niki Glattauer nimmt in seinem neuen Buch "Ende der Kreidezeit" nicht wie gewohnt die Schule, sondern das digitale Zeitalter unter die Lupe.
FAVORITEN. MEIDLING. Für Niki Glattauer ist das Thema Schule schriftstellerisch ausgereizt, ebenso wie das Thema Umzug im realen Leben. "Ich bin in meinem Leben 22 mal in Wien umgezogen. Jetzt bleibe ich in Favoriten", zeigt sich der Direktor der CIS-Schule in der Meidlinger Rosasgasse, der "nebenbei" als Autor tätig ist, überzeugt. Auch die heitere Kritik am österreichischen Schulsystem, die Glattauer in seinen Bestsellern wie "Leider hat Lukas...", "Der engagierte Lehrer und seine Feinde" oder "Die Pisa-Lüge" mehr als treffend auf den Punkt gebracht hat, gehört der Vergangenheit an. Zwar wählte der ehemalige Journalist, der sich im zweiten Bildungsweg zum Lehrer ausbilden ließ, für sein dreizehntes Buch "Ende der Kreidezeit" wieder die Mathamatiklehrerin Reingard Söllner aus den Lukas-Büchern als Protagonistin, doch dieses Mal begleitet der Leser Söllner durch ihren Alltag im digitalen Zeitalter - vom Smartphone bis hin zu den Do-it-yourself-Supermarktkassen.
"Im Buch geht es darum, dass uns die Digitalisierung in die Falle gelockt hat, da sie noch nicht funktioniert", erklärt Glattauer beim bz-Gespräch. "Wir haben ein Zeitalter verlassen und befinden und in einem Zwischenstand. Das Neue funktioniert noch nicht und das alte, analoge Leben gibt es nicht mehr."
"Sogar Raufen ist g´scheiter"
Das Buch soll jedoch keine Kritik am digitalen Zeitalter mit seinen Handys sein. "Ich bin kein Handyhasser. Meine Kinder haben Handys, meine Tochter lebt für ihr Smartphone. Auch in meiner Schule gibt es kein Handyverbot, nur in der Pause - denn in der Freizeit sollen sich die Kinder unterhalten oder Brettspiele spielen. Sogar Raufen ist g´scheiter als ins Smartphone schauen. Aber es gehört zum Leben dazu und ist auch in vielen Dingen praktisch. " Zu diesen praktischen Dingen zählen Apps wie jene der Wiener Linien, Shazam oder booking.com, die auf Glattauers Display zu finden sind. "Das Handy ist ein Freizeit- und Arbeitsgerät, eine Beschäftigungstherapie und ein Aufpasser. Man muss sich aber bewußt sein, dass es etwas mit uns macht. Es verändert erstens den Fußgängerfließverkehr. Unterwegssein ist kein aktives Gehen mehr, sondern ein Geschobenwerden. Alle schauen auf das Display, lassen sich schieben und nehmen eine passive Rolle ein. In der U-Bahn checken die Leute gar nicht mehr, wenn ein Sitzplatz frei wird und der Fließverkehr auf den Rolltreppen gerät ins Stocken. Die Jungen kennen es gar nicht mehr anders; wenn ich links die Rolltreppe hinunter gehen möchte denken die `Was will der alte Trottel, warum drängt der so?´"
Nicht nur die Einschränkung der Wahrnehmungen und der Kommunikation kreidet Glattauer an, sondern auch die zusätzliche Arbeit, die heutzutage gratis verrichtet wird. "Mit Netbanking und Do-it-yourself-Suprmarktkassen verrichten wir nun eine Arbeit, die früher andere für uns erledigt haben. Wir sind unser eigener Kassier, Bankangestellter und ein Flug wird im Internet gebucht, samt Sitzpaltz auswählen und Einchecken. Diese Arbeit, für die ich keinen Cent bekomme, verrichte ich in der Freizeit. Freizeit heißt allerdings frei - frei sein und nicht gratis arbeiten. Wir nehmen uns unsere Freizeit absichtlich weg."
Englische Supermarktkassen und mongolische Callcenter
Schwere Kost ist "Ende der Kreidezeit" allerdings nicht, in gewohnt humorvoller Glattauermanie wird gelacht, wenn dem Leser ein Spiegel vorgehalten wird. Die Idee zu dem Buch kam dem Autor übrigens beim Scheitern an einer Selbstbedienungskassa in England vor drei Jahren: "Damals gab es diese Kassen in Österreich noch nicht und ich konnte meinen Einkauf nicht durchführen. Mein Grant war so groß, dass ich beschlossen habe, ein Buch darüber zu schreiben." Der Rest war schnell gefunden, auch dank gesammelter Zeitungsabschnitte wie etwa über einen Bus, der sich mit einem Navi verirrte und mit einem Bagger aus einem Feld befreit werden musste.
Eine Lieblingsszene des Autors dreht sich um den Tod seiner Mutter im vergangenen Jahr. "Bei der Frage nach Informationen über eine Einäscherung bin ich tatsächlich in einem Callcenter in der Monglei gelandet. Man redet nur mit Maschinen. Beim Googeln bin ich dann endlich auf die einzige gefühlvolle Passage über den Tod gestoßen, allerdings hat es sich um eine Meerschweinchenbestattung gehandelt", lacht Glattauer.
Von der Zukunft hat der Autor bereits ein deutlcihes Bild. "Wenn meine Kinder so alt sind wie ich - sie sind neun und fünfzehn, ich im sechzigsten Lebensjahr - werden sie im Lokal von keinen Menschen mehr bedient. Wenn sie im Taxi sitzen, chauffiert kein Mensch. Sie werden gar nicht mehr selbst Auto fahren. Der Einkauf wird von Robotern nach Hause geliefert, die Arbeitsplätze auf die Hälfte reduziert und Reisen finden virtuell statt. Aber ich bin sicher: Sie werden genauso viel Spaß haben wie wir jetzt!"
Zur Person
Niki Glattauer, am 1. Jänner 1959 in Zürich geboren, ist ein österreichischer Schuldirektor, Buchautor und Kolumnist. Mit 37 Jahren entschloss sich der damalige stellvertretende Chefredakteur der Zeitschrift "News", seinen Beruf als Journalist an den Nagel zu hängen und Lehrer zu werden. Niki Glattauers Vater Herbert O. Glattauer war bereits langjähriger Redakteur bei der Tageszeitung "Kurier", der Bruder Daniel ist ebenfalls Schriftsteller.
Zur Sache
Das Buch "Ende der Kreidezeit" ist als Hardcover im Verlag Brandstätter erschienen, hat 196 Seiten und kostet im gängigen Buchhandel 24,90 Euro.
ISBN-Nummer: 978-3-7106-0154-5
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