Der Stoff, aus dem ihre Träume sind

KLOSTERNEUBURG (Printausgabe, 16. Dezember 2015). Wenn der eisige Winterwind Hände tief in wärmende Manteltaschen versinken und Nasenspitzen in kuschelige Wollschals vergraben lässt – spätestens dann spielt die Optik der Kleidungsstücke bei den wenigsten Menschen vorübergehend keine große Rolle mehr. Im Vordergrund steht ihr Wert als Gebrauchsgegenstand. Dabei könnten alte Muster und handgefertigte Stücke abseits der Industrieware bemerkenswerte Geschichten erzählen.
Die Klosterneuburgerin Karin Altmann ist eine, die sich aus künstlerischer und wissenschaftlicher Perspektive mit Textilien und ihren Geschichten auseinandersetzt. Sie betrachtet diese nicht nur als reine Stoffstücke, sondern als Dokumente.

Textilien, die vom Leben erzählen
"Stoffe erzählen mir von den Menschen und deren Leben, die sie herstellen und tragen", erklärt die 37-Jährige, die auch als Kunstvermittlerin im Essl Museum tätig ist. Da in westlichen Gesellschaften diese Aspekte von Textilkunst nur mehr in den seltensten Fällen eng miteinander verwoben sind, forscht Altmann fern von ihrer Heimat – in Zentral- und Südasien.
Jetzt ist ein Buch über ihre Forschungen aus Bhutan erschienen: "Fabric of Life – Textile Arts in Bhutan". Bhutan ist das letzte buddhistische Königreich im Himalaya und konnte sich eine besondere Textilkunst bewahren. 1989 wurde ein Dekret ins Leben gerufen, nach dem das Tragen der Nationaltracht Pflicht in Regierungsbüros, Schulen und sakralen Gebäuden wurde.

Frauen weben, Männer sticken
Die Textilien in dem Land sind sowohl Kleidung und Alltagsobjekt als auch Währung und Handelsware. Außerdem sind sie ebenso integrale Bestandteile bei sakralen Festen und Ritualen. "Am Land haben die Menschen oft nur ein Kleidungsstück und das ist die Nationaltracht, weil das einfach selbst herstellbar ist", berichtet Altmann. "Tagsüber trägt man es und am Abend oder auf Reisen nutzt man es als Decke." Während das Weben den Frauen vorbehalten ist, nähen und sticken die Männer.
Die Textilien Bhutans gewähren einen Einblick in die mystische und religiöse Weltanschauung der Bevölkerung und reflektieren zugleich die Konzeption von Gender in der Gesellschaft. Frauen haben in Bhutan einen hohen Stellenwert und als Grundbesitzerinnen ist dies nicht nur ein idealisierter. Alle religiösen Bereiche sind indes Männern vorbehalten.

Mitteleuropäische Stoffe, südasiatische Schnitte
Die jungen Generationen, meint Altmann, würden über die strengen Bekleidungsvorschriften durchaus lästern, andererseits jedoch auch einen gewissen Stolz für die Tracht zeigen. So mischen sich in die neuesten Designs auf den Laufstegen immer wieder traditionelle Stoffe, aber auch klassische Schnittelemente.
Während die Klosterneuburgerin bei ihren Aufenthalte in Bhutan gerne in der schlichten Landestracht unterwegs war ("Die Frauenkleidung Kira ist einfach sehr bequem. Es handelt sich um einen rechteckigen Stoff, der mit Gürtel und Brosche zusammengehalten wird."), ist sie kein Fan der österreichischen Tracht: "Ich bin kein Dirndl-Fan", gesteht sie. "Mir gefallen die Schnitte nicht, aber ich schätze sehr wohl traditionell hergestellte Stoffe." Solche wie etwa Blaudruck-Stoffe vereint die Künstlerin und Uni-Lektorin in ihrer eigenen kleinen Modelinie mit einer modernen asiatisch-puristischen Schnittführung.

Neue Reisen, neue Stiefel, neues Heim
In ihrem Buch hat sich Karin Altmann auf 436 Seiten mit der bhutanesischen Textilkunst auseinandergesetzt und den Stoffen und den Menschen sowie den Ritualen und Traditionen dahinter ihr ganzes Herzblut gewidmet, jetzt will sie dieses Wissen nicht nur zwischen den Zeilen weitergeben, sondern organisiert im kommenden Jahr eine Bildungs- und Kulturreise zu den Weberinnen in das südasiatische Land. Gemeinsam mit dem Waldviertler Schuhproduzenten GEA plant sie darüberhinaus ein modernes Redesign bhutanesischer Frauenstiefel.
Aber damit nicht genug der Pläne: Vielleicht damit Forscherinnengeist und Fernweh einen Gegenpol bekommen, wirft Altmann in der Heimat einen Anker aus. Gemeinsam mit ihrer Familie, ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern, steht in Klosterneuburg demnächst ein ganz anderes Großprojekt an: der Hausbau in Weidling.

DETAILS ZUM BUCHPROJEKT: Fabric of Life: Textile Arts in Bhutan – Culture, Tradition and Transformation

Die Klosterneuburgerin Karin Altmann, Kunstvermittlerin im Essl Museum und Lektorin an der Universität für angewandte Kunst Wien, promovierte 2014 mit einer Dissertation über Textilkunst in Bhutan, für die sie mit einem Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurde. Fast ein ganzes Jahr forschte Karin Altmann in Bhutan, dem letzten buddhistischen Königreich im Himalaya. Sie lebte und arbeitete mit Weberinnen in verschiedenen Teilen des Landes, unterrichtete ehrenamtlich Kinder in einer Blindenschule, erkundete zu Fuß die entlegensten Regionen, interviewte bedeutende Geistliche und lernte sogar den jungen König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck persönlich kennen.

Bhutan, das letzte buddhistische Königreich im Himalaya, konnte durch seine abgeschiedene Gebirgslage, die zurückhaltende Außenpolitik und die Grundprinzipien des Buddhismus bis heute eine beachtenswerte Textilkunst bewahren, die mit allen Aspekten des Lebens verwoben ist.
Karin Altmann stellt Bhutans Textilien in ihrer Vielfalt vor: sie sind Kleidung und Alltagsobjekt, Währung und Handelsware, markieren als Geschenke wichtige Ereignisse im Laufe eines Lebens und bezeugen den sozialen Status einer Person. Sie sind aber auch integraler Bestandteil bei sakralen Festen, Tänzen und Ritualen, gewähren einen Einblick in die mystische und religiöse Weltanschauung der bhutanischen Bevölkerung. Das Buch erzählt so auch die Geschichte eines Landes, das in einer globalisierten Welt sensibel nach einer Balance zwischen Tradition und Fortschritt sucht.

Die Publikation ist in der Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Edition Angewandte im De Gruyter Verlag erschienen.