Wenige profitieren von Europas Freizügigkeit so stark wie unser Bezirk

Inhaber und Gründer Hannes Auer, der anhand einer Autotür die Stärken seines Unternehmens umreisst. | Foto: BB Archiv
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  • Inhaber und Gründer Hannes Auer, der anhand einer Autotür die Stärken seines Unternehmens umreisst.
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BEZIRK (nos/bfl). Sie gehören zu den Grundsäulen der Europäischen Union (EU) und haben nicht nur das Wirtschaftsleben in der Region nachhaltig verändert, die Freizügigkeitsrechte für Personen, Warenverkehr und Dienstleistungen. Gerade Bezirke wie Kufstein, mit einem ausgeprägten Branchenmix und zahlreichen international agierenden Unternehmen, profitieren von diesen Freiheiten, die uns die EU-Mitgliedschaft gebracht hat.

Die waren schon vorher da

Ein Beispiel unter vielen, die vor den EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1994 zurückreichen, ist etwa die "Moguntia" in Kirchbichl. Metzger Friedrich Buchholz gründete 1903 in deutschen Mainz am Rhein seine Gewürzfabrik, die mittlerweile zum multinationalen Unternehmen herangewachsen ist. Schon 1955 wurde in Kufstein die erste Niederlassung im Ausland eröffnet.
„1955 hat 'Moguntia' eine kleine Gewürzfabrikation in Kufstein gekauft, aus der heraus 'Moguntia Österreich' entstanden ist”, erklärte Geschäftsführer Johannes Tonauer der Tiroler Wirtschaft. Beide Standorte, Mainz und Kufstein, wurden 2001 geschlossen, seitdem produziert "Moguntia" in "Europas modernstem Gewürzwerk" im Kirchbichler Gewerbegebiet. Weitere Niederlassungen betreibt das Unternehmen in Gossau (Schweiz), Hetton-Le-Hole (Großbritannien) und Mundolsheim (Frankreich), die Waren – Gewürzmittel und Lebensmittelzusätze für die Produktion, gehen vorallem in den D-A-CH-Raum, nach Osteuropa, Zentralasien, den Arabischen Raum und Fernost.
"Moguntia" setzt heute stark auf Digitalisierung: An modernen Abfüllanlagen kann eigenen Angaben zufolge "weitestgehend auf Personal verzichtet werden, bis auf die Bedienpersonen und Programmierer in der Schaltzentrale". Durch Lohnkostendruck gilt hier die Automatisierung als der Schlüssel zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. "Hier ist Moguntia allen in der Gewürzbranche bekannten und üblichen Konzepten meilenweit überlegen", so das Unternehmen. Heute beschäftigt die Firmengruppe rund 700 Mitarbeiter, darunter etwa 130 in Kirchbichl, und verzeichnet einen Gesamtumsatz von rund 140 Millionen Euro.

Die Exportmeister

Mittlerweile ist die in Kufstein gegründete "Viking GmbH" auch namentlich ganz im Mutterkonzern angekommen. Seit Anfang diesen Monats firmiert sie als "Stihl Tirol Gmbh" unter der Flagge der international tätigen Baden-Württembergischen Gruppe. 1992 übernahm "Stihl" die "Vikinger" in die Unternehmensgruppe. 2001 übersiedelte "Viking" nach Langkampfen, ins Gewerbegebiet Schaftenau. 2007 und 2012 wurde das Werk bereits zweimal erweitert. Mit 381,871 Millionen Euro Umsatz gelang eine Steigerung im Vergleich zum Vorjahr um 43 Prozent. Von 2015 bis 2017 habe "Viking" den Umsatz beinahe verdoppelt, freut man sich in Schaftenau, wo das "Kompetenzzentrum" der Gartengerätespezialisten momentan wieder ausgebaut wird, auch bei den Mitarbeiterzahlen. Kürzlich hat das Unternehmen hier die 500-Mitarbeiter-Marke überschritten, bis Ende des Jahres sollen 100 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden sein. Der Standort in Tirol hat allerdings nur wenig mit dem heimischen Absatzmarkt zu tun: Die Exportquote von "Viking" liegt seit Jahren konstant bei 98 Prozent, Hauptmärkte sind neben Deutschland besonders die Benelux-Staaten, Frankreich, Polen, Großbritannien und Skandinavien – also überwiegend der EU-Binnenmarkt.
Die Unternehmensgruppe, die "Stihl Holding AG & Co KG", bilanzierte 2017 mit Umsatzerlösen von insgesamt 3,7918 Milliarden Euro und einem Mitarbeiterstand von rund 15.900 Mitarbeitern.

Die "Grenzgänger"

Ein besonders erfolgreiches Unternehmen mit ungeheurem technologischem Know-How ist die 1998 von Inhaber Hannes Auer in Oberaudorf (Bayern) gegründete "3CON GmbH". Das Unternehmen produziert Werkzeug- und Anlagentechnologien zur Fertigung von Automobil-Innenausstattungen, wie Türverkleidungen, Instrumententafeln und Säulen.
2001 wurde die "3CON Anlagenbau GmbH" in Ebbs errichtet. Ursprünglich als Werk geplant, ist sie heute der Stammsitz der Unternehmensgruppe. 2013 und 2015 wurde der Standort in Ebbs sukzessive erweitert.
Im Jahr 2014 wurden zudem Anlagen in Michigan (USA) und Shanghai (China) übernommen, Ende 2015 eine Niederlassung in San Luis Potosí (Mexiko) und 2016 die "3CON China Machinery Co." in Chengdu (China) eröffnet.
"Mittlerweile zählen wir zu den Weltmarktführern in den Bereichen Presskaschieren, Vakuumkaschieren, Umbugen, Fügetechnik, Montagelinien und Heißluft-Schneiden im Sonderanlagenbau für die Automobilindustrie und deren Zulieferer. Namenhafte Kunden aus der Branche vertrauen auf unser Technologie-Know-How. Wir bieten innovative Komplettlösungen an, die von der Beratung des Bauteildesigns bis zur schlüsselfertigen Übergabe der Produktionseinrichtungen inklusive der Servicebetreuung während der gesamten Produktionsdauer reicht", erklärt Hannes Auer. Der Umsatz des Unternehmens betrug 2015 rund 50 Millionen Euro. Im April dieses Jahres war "3CON" Teil der Wirtschaftsdelegation beim größen Staatsbesuch in China.

Die "Zugezogenen"

Nicht nur die Tourismusbranche und die Logistiker profitieren auch stark von der Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb der EU. Letztere können so wertvolle Fremdsprachenkenntnisse "einkaufen", was in den internationalen Geschäftsbeziehungen sehr wichtig sein kann. Ohne Sprachbarriere zu verhandeln, Einblick in regionale Eigenheiten zu haben und auf Besonderheiten reagieren zu können bringt Wettbewerbsvorteile. Das wissen die zahlreichen Speditionen und Logistikunternehmen im Bezirk ebenso zu schätzen, wie die "Zugezogenen" aus allen Ecken der EU.
Branchen, die über Fachkräftemangel klagen, müssen ihre Fühler ohnehin über die Staatsgrenze hinaus nach Personal ausstrecken.
In Unternehmen wie der "Sandoz GmbH" oder auch an der Fachhochschule Kufstein sind ein internationaler Mitarbeiteraustausch und eine gewisse damit verbundene Flexibilität an der Tagesordnung.

"Nach meinem Studium in England wollte ich erst zurück nach Frankreich ziehen. Leider war das Arbeitsklima damals im Jahr 2010 dort allgemein nicht besonders gut. Es war dann eigentlich ein Zufall der mich bei der Jobsuche nach Tirol brachte. Die geographische Nähe aber auch die unkomplizierte Vorgangsweise hatten großen Anteil an meiner Entscheidung" erklärt der Franzose Marc-Alexandre Switaj. "Der Plan war auch, maximal zwei Jahre hier zu bleiben.

Dass es mir so gut gefallen würd, und dass aus zwei jetzt schon acht Jahre geworden sind, hätte ich nicht gedacht. Dank der EU gab es für mich überhaupt keine Schwierigkeiten beim Auswandern nach Österreich – ich habe sogar das Gefühl, dass ich in Frankreich mit mehr Bürokratie rechnen müsste, als hier.

Bezüglich der Sprache habe ich das Glück, aus einer Region in Frankreich zukommen, wo Deutsch nicht komplett unbekannt ist", so der Elsässer, "dennoch gebe ich gerne zu, dass ich heute immer noch mit zwei Dingen zu kämpfen habe: dem Steuerausgleich und der deutschen Grammatik."
"Das beste Beispiel zu beschreiben wie ich mich heute in Tirol fühle, ist wohl, dass ich Heimweh habe, wenn auf ich auf Besuch bei meiner Familie in Frankreich bin. 'Dahoam' ist jetzt in Tirol. Ich muss hier wirklich einmal Dankeschön an die Tiroler sagen, besonders an die Musikantenkollegen in der Musikkapelle, da ich nie damit gerechnet hätte, so einwandfrei integriert zu werden."

Christian Zimmer kam ursprünglich als Bäcker und Konditor aus Kyllburg (BRD) aus der Waldeifel nach Tirol. Der Vizeobmann der Bundesmusikkapelle Kirchbichl ist „überzeugter Wahlösterreicher“. Er erzählt: "Aufgrund der Mitgliedschaft in der EU haben sich fast keine bürokratischen Probleme ergeben, Behörden war ich in Deutschland ja zur Genüge gewöhnt. Ein paar Dinge sind hier anders, aber nichts was mich vor Probleme gestellt hätte. Positiv wirkte sich auch die gemeinsame Währung, die damals etwa zwei Jahre alt war, auf meine Entscheidung aus  – kein Umrechnen, kein Wechselverlust. Der Faktor innerhalb der EU war mitentscheidend, eher aber die gemeinsame Sprache. Und ich habe immer die Möglichkeit mich ins Auto zu setzen und in etwa sechs Stunden bin ich in meiner alten Heimat. Das Leben in Österreich ist für mich mit einer sehr hohen Lebensqualität verbunden, ich lebe gerne hier und werde mit ziemlicher Sicherheit den Rest meines Lebens hier verbringen, auch, weil ich hier inzwischen eine Familie gegründet habe und in Kirchbichl einfach 'angekommen' bin. Heimat ist wo ich her bin, dahoam bin i inzwischen in Kirchbichl!"

Die Auswanderer

Seine ganz eigenen "Northern Moments" lebt Martin Eigentler mittlerweile in Sveg, Schweden – und lässt andere daran teilhaben. Der "Husky-Ranch"-Besitzer vom Angerberg und Logopädin Alice Neuböck haben sich für eine "bewusste Reduktion von verschiedenster Ablenkung" entschieden und nach einigen Skandinavien-Aufenthalten den Umzug in den hohen Norden gewagt. Hier bieten sie verschiedenste Camp-Programme an: "Wir haben uns dazu entschlossen, gemeinsam mit den Hunden, die nächsten Jahre in Schweden zu leben. Dort bieten wir Gästen wunderbare Erlebnisse in fast unberührter Natur an, die zu allen möglichen Unternehmungen einlädt. Gemeinsam erkunden wir die Wälder und Seen, sitzen gemeinsam am Lagerfeuer und vieles mehr. Übernachtet wird in kleinen Trapper-Hütten", so Eigentler.

Die Freiheiten im Kurzüberblick

Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit, also auf Ausreise aus ihrem Herkunftsmitgliedsstaat und auf Einreise und Aufenthalt in jedem anderen Mitgliedsstaat, wenn sie dort, als Arbeitnehmer oder Selbstständige, erwerbstätig oder auf Arbeitssuche sind ("Arbeitnehmerfreizügigkeit"). Nicht Erwerbstätige haben dieses Recht, wenn sie im "Aufnahmemitgliedsstaat" über genügende Existenzmittel und ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen.

Die Warenverkehrsfreiheit bezweckt den Schutz des Inner-Europäischen Markts ("EU-Binnenmarkt"). Hierzu verbietet die EU ihren Mitgliedstaaten bestimmte Zölle, Ein- und Ausfuhrbeschränkunge oder Ähnliches, das den Handel mit Waren aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligt.

Jedem EU-Bürger und jedem Unternehmen in der Europäischen Union steht das Recht zu, in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen oder solche in Anspruch zu nehmen ("Dienstleistungsfreiheit") sowie zur Niederlassung und zur Ausübung ihrer Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Der Marktzugang darf nicht durch nationale Regelungen behindert werden.

Wenn es Beschränkungen gibt, müssen sie für alle gelten und sind nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig – etwa, wenn die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Die Beschränkungen müssen aber verhältnismäßig sein. Zudem besteht ein ein "Diskriminierungsverbot". In Österreich sind solche Hindernisse etwa durch das Dienstleistungsgesetz des Bundes und weitere Landesgesetze beseitigt.

Tirol im Europavergleich

Tirol liegt mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Kaufkraftparitäten in Höhe von 39.300 Euro auf Platz 28 der 276 Regionen Europas, wie eine Vergleichsstudie der Tiroler Wirtschaftskammer aus dem Jahr 2017 zeigt. Insgesamt sind mit Tirol vier österreichische Bundesländer unter den „Top 30“: Wien (17), Salzburg (20) und Vorarlberg (26). Südtirol nimmt bei diesem Vergleich mit einem BIP je Einwohner in KKS von 42.400 Euro die 21. Stelle ein.
Mit einem Anteil von 73,4 Prozent an Schülern in berufsbildenden Schulen und Lehrlingen führt Tirol das Ranking auf Platz eins gefolgt vom niederländischen Groningen (73,3%) sowie Vorarlberg (72,0%) und Salzburg (70,6 %) an. Hier zeige sich die besondere Stärke des österreichischen dualen Ausbildungssystems, so die Tiroler Wirtschaftskammer.
Bei der Tourismusintensität (Zahl der Übernachtungen im Verhältnis zur Bevölkerung) wird im Ranking der stärksten Regionen Tirol mit einem Wert von 48,5 nur von Südtirol „geschlagen“ (Tourismusintensität von 56,8).
Die innerbetrieblichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben belaufen sich auf 3,1 Prozent des regionalen BIP bzw. 1.263,2 Euro/Einwohner. In Wien sind es 1.687,7 Euro/Einwohner; in Salzburg 671,1 und in Vorarlberg Euro 663,4. Innerhalb der 30 wirtschaftsstärksten Regionen weist hier die „Automobil-Region“ Stuttgart mit 2.692,7 Euro/Einwohner den höchsten Wert auf. Südtirol kommt in diesem Vergleich auf einen Wert von Euro 258,2.

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