„Hair“ a la Amstetten – besonders sehenswert
Haare hatten und haben in meinem Leben immer schon eine große Bedeutung. Die lange Mähne in der Pubertät, die zu ständigen Konflikten mit meinen spießigen Eltern führte. Dann geschniegelte Haarpracht im Management. Und dann die ungeplante Krebserkrankung mit Chemo und Strahlentherapie, die meine Haare vernichteten, aber mein Leben gerettet haben. Ich verlor alle Haare ohne Hoffnung, dass sie je wieder nachwachsen. Kein Arzt oder Naturheiler konnte mir helfen. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass ich als hässlicher Gnom in die ewigen Jagdgründe eingehe. Nach Jahren mentalen Leidens fand ich ein Institut, das meine verlorenen Haare zwar nicht mehr zum Sprießen bringen konnte, mir aber eine teure Lösung anbot. Eine hauchdünne Folie mit natürlichen Haaren (meist aus Indien oder Spanien – ja, auch so kann man Geld verdienen - werden auf der Glatze befestigt, niemand sieht, was unter der neuen Haarpracht passiert ist. Jetzt fühlte ich mich wieder als vollwertiger, gesellschaftsfähiger Mensch, glücklich und wieder bereit zu neuen Taten.
Die Einleitung war notwendig, um zu verstehen, warum ich „Hair“ in Amstetten unbedingt sehen musste. Haare sind den meisten Menschen wichtig - für das Selbstbewusstsein und um das eigene Ego zu befriedigen. Meine erste Begegnung mit dem Musical war in der Wiener Stadthalle. Der Kaplan organisierte die Karten. Man mauschelte, dass sich nackte Menschen auf der Bühne herumtreiben werden. Und tatsächlich tummelten sich unbekleidete Jungs und Mädls auf der Bühne. Der Besuch war gerettet, wenn wir auch sehr weit vom Geschehen entfernt saßen. Wir hatten gesehen was wir wollten, und der Kaplan hatte auch einen Stimulus für sein elendes zölibatäres Leben.
Amstetten. Die kleine niederösterreichische Musical-Metropole fällt so ganz aus dem kulturellen Umfeld des Mikl-Leitner-Reiches heraus. Hier spielen SchauspielerInnen mit Herz und Hirn und musikalischer Empathie. Man kann vielleicht ein wenig an der Personenführung des Regisseurs Alex Balga herumnörgeln, aber das Gesamtpaket stimmt. Vor allem das nicht im Originalstück vorkommende Zitat aus dem amerikanischen Bürgerkrieg und die Unterdrückung der Indianer sind entbehrlich. Auch ein Blick zum „König der Löwen“ ist störend. Es bleibt unerklärlich, warum das eingebaut wurde. Dennoch: Die sonst stimmige Regie und das einfache und doch wirkungsvolle Szenenbild sowie viele innovative Einfälle geben der Aufführung Hype-Charakter. „Hair“ hat so viel Aussagekraft über Liebe, Frieden und selbstbestimmtes Leben – ein Statement der Freizügigkeit, die 2017 und in den folgenden Jahren bedroht sein wird. Die Präsidentenwahlen in den USA sind ein Vorgeschmack und die Türkei, Ungarn und Polen entwickeln totalitäre Regime. Da tut es gut, wenn man zwei Stunden davon abgelenkt wird.
Die Aufführung wird von einem Top-Ensemble gespielt, Oliver Arno spielt als Claude einen verlorenen Musterschüler, der sich erst nach und nach von seinen Zwängen befreit. Michael Souschek gibt einen unbeherrschten, allen Regeln abholden Strolch, Marjan Shaki ist Leila. Es würde diesen Rahmen sprengen, wollten man alle höchst professionell agierenden Sänger und Sängerinnen anführen. „Let the Sunshine in“ wie auch die anderen Songs lösen Gänsehaut aus.
Für Wiener: Die Fahrt nach Amstetten lohnt sich allemal. Es gibt nur mehr Restkarten.
Bis am 13.8. wird gespielt. Infos und Karten: http://www.viennaticketoffice.com.
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Year: Rock of Ages.
Reinhard Hübl
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