Die Geschichte eines Akkordeons
Vor gefühlten 100 Jahren streunten mein Co und ich durch ein übel beleumundetes Viertel in Paris. Wir hatten Hunger und nur wenig Geld. In manchen Hurenhäusern und Spelunken gab es unredliches Zeug zu kaufen. Gegen Hunger half das nicht. Wenig später hörten wir aus der Ferne ein Akkordeon. Je näher wir kamen, desto eindringlicher wurde sein Klang. Der Mann, der es spielte, hielt uns einen Becher hin, in dem sich Münzen befanden. Schweren Herzens warfen wir ein paar Centime in den hingehaltenen Korb. Der Mann sang und spielte französische High-Lights von Edith Piaf bis Charles Aznavour. Er verzauberte uns, und wir hätten fast das Lokal hinter ihm übersehen. Wir fragten ihn in fragilem Französisch, ob man dort gut und günstig essen könne. Er deutete mit der Hand zum Eingang. Drinnen saß eine Wirtin, die erstaunt auf uns zwei starrte. „Baguette“ brachten wir gerade noch heraus. Ihre Nachfrage: „Fromage et jambon“? Wir nickten, ohne zu wissen, was das ist. Endlich, Essen. Und wie wir so in einem Verschlag saßen und das Angebotene gierig in unsere Körper hineinschlangen, spielte der Mann unentwegt weiter. In einer Pause sagte er uns seinen Namen – Jean irgendwas – und gab uns noch seine Telefonnummer. Ich wollte ihn nach einigen Jahren für einen Kundenevent engagieren, doch die Leitung blieb tot. Vielleicht war es auch der Künstler. Ich trat an Maria Bill heran, um sie zu einem Konzert mit fünf Musikern, einer davon mit Akkordeon, zu bewegen. Als alles perfekt war, kam ein neuer - dummer - Chef, der den Event absagte. Bill war böse, ich der lackierte Affe.
Seither habe ich mich nie mehr mit Akkordeon beschäftigt, bis ich im Programm von Grafenegg folgenden Titel fand: „Leidenschaftliche Akkordeon-Rhythmen“. Wie das wohl mit Orchester klingen mag? Das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich lud mit der amerikanischen Dirigentin Mei-Ann Chen zu einem Konzert mit französisch-spanischer Mischung ein. Die Konzertleiterin mit taiwanischen Hintergrund liefert eine ordentliche Aufführung. Ihr zur Seite steht die Solistin Ksenija Sidorova, die im ersten Teil ein verhaltenes Solo aus Georges Bizets „Carmens Spiel“ zeigt. Im roten Hosenanzug geht die Künstlerin aus Riga nur zaghaft aus sich heraus. Die anfängliche Nervosität ist in Astor Piazzollas „Aconcagua“ – Konzert für Bandoneon und Orchester - wie weggeblasen. Sie bringt nun – jetzt schwarz gekleidet – die musikalischen Farben zum Leuchten.
Ich sollte noch von „España“ von Emmanuel Chabrier und „Daphnis et Chloë“ von Maurice Ravel berichten, doch der Platz hier ist knapp. So widme ich zum Schluss den 1928 komponierten „Boléro“, vom dem Ravel selbst sagte: „Leider enthält er keine Musik“. Die Gleichförmigkeit ist nicht zu leugnen, doch ich finde es spannend wie sich das Orchester von einer Flöte zu einem grandiosen Finale erhebt. George Petre ist Maßstab aller Aufführungen. Am 24.11.2016 stand er das letzte Mal am Pult der Wiener Symphoniker, schwer gezeichnet von einem Sturz, und ließ mit nur wenigen Handzeichen den „Boléro“ spielen. Eine Sternstunde der Musik. Ein paar Monate später starb er. In Grafenegg hat der Mann an der kleinen Trommel eine gefühlvolle Hand, das Orchester folgt ihm mit hypnotischer Sogwirkung. Dafür bekommt er großen Zuspruch vom Publikum
Next in Grafenegg: Die Welt im Dreivierteltaxt am 14.7.
Infos und Tickets: www.grafenegg.com
Reinhard Hübl
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