Das Lied vom Kirschbaum ...
Zum FRÜHLING sagt der liebe Gott:
"Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch!"
Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub;
vieltausend Blätter, grün und frisch.
Das Würmchen ist im Ei erwacht,
es schlief in seinem Winterhaus.
Es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf
und reibt die blöden Augen aus -
und darauf hat's mit stillem Zahn
an seinen Blätterchen genagt.
Es sagt: "Man kann nicht weg davon;
was solch Gemüs' nur mir doch behagt!"
Und wieder sagt der liebe Gott:
"Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!"
Da treibt der Kirschbaum Blüt' an Blüt';
vieltausend Blüten, weiß und frisch.
Und's Bienchen sieht es in der Früh
im Morgenschein und fliegt heran
und denkt: "Das wird mein Kaffee sein -
was ist das kostbar Porzellan!
Wie sind die Tässchen rein gespült!"
Es steckt sein Züngelchen hinein;
es trinkt und sagt: Wie schmeckt das süß;
da muss der Zucker wohl fein sein!"
Zum SOMMER sagt der liebe Gott:
"Geh, deck dem Spatzen seinen Tisch!
Da treibt der KIRSCHBAUM Frucht an Frucht
vieltausend Kirschen rot und frisch
und Spätzchen sagt: "Ist's so gemeint?,
ich setz' mich hin, ich hab Appetit -
das gibt mir Kraft in Mark und Bein,
stärkt mir die Stimm' zu neuem Lied!"
Da sagt zum HERBST der liebe Gott:
"Räum fort, sie haben abgespeist!"
Drauf hat die Bergluft kühl geweht
und hat ein bissel Reif geeist.
Die Blätter werden gelb und braun;
eins nach dem anderen fällt schon ab -
und was vom Boden stieg herauf,
zum Boden muss es auch hinab.
Zum WINTER sagt der liebe Gott:
"Jetzt deck, was übrig ist, mir zu!"
Da streut der Winter Flocken drauf -
nun danket Gott und geht zur Ruh!"
Johann Peter Hebel / 1760 - 1826 - deutscher Autor und Theologe
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Dein Papa hat dir, min liebes Kind, zur Geburt einen Baum gepflanzt.
Einen Kirschbaum!
Unterhalb, in seinem Schatten, habe ich dir einen Sandplatz angelegt.
Nun stehst du unter deinem Lebensbaum,
mit einer roten Schaufel in der Hand.
Du überlegst dir wohl, eine Sandburg zu schaufeln
oder doch lieber eine Strasse durch den Sand zu ziehen.
Derweil du noch überlegst,
zwitschern die Amseln in deinem Baum.
Jetzt ist FRÜHLING; die Kirschblütezeit!
Derweil sind Bienen in unzähliger Anzahl fleißig bei der Arbeit.
Unermüdlich sammeln sie den Blütenstaub ein
und bei der Emsigkeit, von ihnen gar nicht bemerkt,
befruchten sie die Baumfrüchte - die Herzkirschen,
die dann reifen. Ihr Summen erfüllt die Luft.
Die schneeweißen Blüten fallen lautlos zur Erde nieder.
Staunend streckst du deine Ärmchen aus,
um die zarten, weißen Blüten aufzufangen.
Entzückt schaust du in die weißen Blütenzweige des Kirschbaumes.
Mein liebes Kind, wir müssen uns mit den Amseln in Geduld üben.
Die Zeit vergeht und dann genießen wir im SOMMER die Kirschenzeit:
Du zum Naschen - ich zum Ernten!
Auch die Singvögel lassen es sich dann schmecken.
Dann folgen schon bald Regentage und Stürme,
die deinem Lebensbaum die Blätter rauben.
Der HERBST zieht dann ins Land.
Kahle, weitverzweigte Äste ragen dann nackt und schmucklos
aus der Baumkrone des Kirschenbaumes;
bereit und wartend auf Schnee, Frost und Reif.
Es folgt der WINTER - im Kreislauf des Lebens!
Hildegard Stauder
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